Morgen
Karls Augen brannten und er musste gähnen. Die ganze Nacht hatte er im Halbdunkel neben Lasse Leghammen, dem finnischen Schnittkünstler gesessen, mit dem er einen Beitrag zu einem israelischen Nachwuchsliteraturpreis mit Beteiligung einer deutschen Schule bearbeitete.
Gerade hörten sie sich die stammelnden Ausführungen eines Professors für Literatur an, der den Wettbewerb begleitete, da unterbrach Lasse die Wiedergabe.
“Das soll wirklich gesendet werden?”, fragte Lasse und drehte sich auf seinem Stuhl zu Karl.
Der Raum war dunkel und kühl. Während draußen die Sonne des Oktobermorgens sich anschickte, die Temperaturen hoch zu halten, sorgte die Klimaanlage im Studio für einen Ausgleich. Karl fand es eigentlich zu kühl, aber er hatte sich in seinen über 15 Jahren in Tel Aviv daran gewöhnt, dass die Studiogebäude der ARD, für die er als Studioleiter arbeitete, auf Temperaturen gekühlt wurden, die man in Deutschland eher aus dem Kühlschrank gewohnt war. Karl hatte zwar schon mehrfach versucht, die Temperaturen im Gebäude anders einstellen zu lassen, aber das war bei den Mitarbeitenden auf wenig Gegenliebe gestoßen. Er hatte sich also ergeben und ließ die Kälte über sich ergehen.
Lasse trug nur ein T-Shirt. Wie immer prangte auf der Brust irgendein Motiv mit popkultureller Relevanz. Er trug diese Shirts immer. Karl war das egal. Er selbst war im Studio selten ohne Sakko unterwegs. Das erforderten die Temperaturen, aber auch die Rolle in der er sich befand.
Dass er mit dem Kameramann Lasse einen Beitrag schnitt, war auch nur eine Ausnahme. Sie hatten früher regelmäßiger zusammengearbeitet, aber seit sich Karls Aufgaben ins Studio-Management verlagert hatten, war seine journalistische Tätigkeit stark in den Hintergrund gerückt. Daher war es ihm eine gelegene Abwechslung, mal wieder sein Handwerk zu bemühen und einen Beitrag zur Sendereife zu begleiten. Vor allem, da kaum jemand da war, um die Arbeit zu übernehmen. In Israel war Feiertag. Ein Shabbat, aber auch Simchat Tora, das sogenannte Schlussfest. Große Teile der Belegschaft waren auf Grund des Wochenendes ohnehin nicht im Studio und die sonst übliche Kernmannschaft war ausgedünnt.
“Der Beitrag muss fertig werden”, sagte Karl und sah auf die Uhr. “Da bleibt für inhaltliche Fragen jetzt keine Zeit mehr. Lass uns schauen, was wir noch an Kosmetik betreiben können.”
Er streckte sich, um die Müdigkeit aus den Knochen zu treiben und lehnte sich dann mit den Ellbogen auf die Knie. Den Blick fest auf den hell leuchtenden Monitor gebannt.
Lasse zuckte mit den Schultern: “Kosmetik kann ich machen. Einen Fernsehpreis kannst du damit aber nicht erwarten.”
Karl lachte leise. Sein Anspruch an die Qualität der Beitrage im Studio war berüchtigt.
“An diesem hier wird das sicherlich nicht liegen – das ist nicht die Aufgabe. Lass’ uns fertig werden und dann ist auch schon gut für heute. Die Lichter der Welt fackeln gerade eher woanders.”
Lasse kommentierte es nicht weiter und ließe den Literatur-Professor nochmals von vorne beginnen.
Sie waren mit ihrer Arbeit fast fertig, da wurde hinter Karl plötzlich die Tür aufgerissen. Licht erfüllte den Raum. Karl konnte im Türrahmen nur eine Silouette erkennen.
“Raketeneinschläge in Ashkelon! Karl, du musst unbedingt kommen”, sagte die Stimme von Nina, der Volontärin, die sie aus dem Hamburger Studio für ein paar Wochen nach Tel Aviv geschickt hatten.
Karl drehte sich zu Tür. Wie in Trance bewegte sich sein Körper – er war völlig aus der Konzentration gerissen. Sofort waren seine Gedanken aber bei seiner Familie. Er hatte die Nachricht noch gar nicht bewusst verarbeitet. In Ashkelon befand sich seine Wohnung. Er wohnte dort, mit Magda und ihrer gemeinsamen Familie. Seine Kinder, Benjamin und Karla, gingen dort zur Schule. Von dort fuhr er häufig mit dem Auto, um in Tel Aviv zu arbeiten. Unter der Woche, oder wenn er mal wieder lange arbeiten musste, dann nutzte er ein kleines Appartement über einer Werkstatt nahe des Yarkon Ufers.
“Okay“, sagte Karl leise. Die Bedeutung der Nachricht sank erst langsam in Karls Bewusstsein. Er erhob sich. Langsam, unsicher. Ob sich Nina nicht vielleicht vertan haben könnte?
“Karl. Es ist kritisch. Sonja braucht dich“, drängte sie zur Eile.
Sonja Terlangen stand vor einem mit Papier übersäten Schreibtisch und sprach in ein Telefon: “I’ll call you back in a couple of minutes, when I know more.” Gerade als Nina und Karl ankamen, legte sie auf. Wie immer trug Sonja einen eng anliegenden Rock. Den dazu passenden Blazer hatte sie über die Rückenlehne des Bürostuhls gehängt, der vom Tisch weg geschoben, vor einem der anderen, unbesetzten Schreibtische stand. Der Rest des sonst so lebhaften Großraumbüros wirkte verlassen. Nur in entlegenen Ecken saßen eine Handvoll Mitarbeitende. Es war fast gespenstisch, fand er.
“Du musst nach Hamburg“, sagte Sonja und warf eine Strähne des kastanienbraunen Haars, das in langen geraden Strähnen von ihrem Kopf hing, über eine Schulter. In der Hand streckte sie Karl zwei Papiere entgegen.
“Könnt ihr mich bitte erstmal über die Situation aufklären?”, fragte Karl und stemmte die Hände in die Hüften.
Sonja hielt einen Moment inne und sah Nina kurz an. Sie legte die Papiere wieder auf den Tisch. Ihr Telefon klingelte.
“In Ashkelon sind Raketen eingeschlagen. Die Hamas greift Israel aus dem Gazastreifen an. Nir Oziz und Raim sind auch getroffen“, sagte Sonja ruhig, aber bestimmt. “Das ist kein Spaß, Karl. Das ist ernst. Hamburg hat dich zurückbeordert. Der Intendant wird gerade informiert und dann tritt der Notfallplan ein.”
“Der Notfallplan? Ist das euer Ernst?”, fragte Karl.
Sonja nickte nur.
Karl schlug mit der Hand vor den eigenen Mund.
Seine Gedanken rasten. Sein Bewusstsein schlug Alarm und es gab nun kein Zurück mehr. Wenn der Notfallplan ausgerufen war, musste er handeln. Er formte die Hand zu einer Faust und biss kurz hinein, um sich zu sammeln.
“Okay, Leute. Dann packen wir es an“, sagte er und ließ sich die Papiere von Sonja geben.
Er drehte sich zu Nina.
“Hol die anderen her. Lasse sitzt im Schnittraum. Trommel alle zusammen, die du finden kannst. Wir müssen den Notfallplan in Bewegung setzen.”
“Du willst nicht die Entscheidung des Intendanten abwarten?”, fragte Sonja.
“Nein”, erwiderte Karl. “Ich weiß wie ich sie treffen würde, wenn ich Intendant wäre. Und ich bin mir sicher, dass unser Intendant genauso denkt, wie ich. Ich habe ihn bei einem Abendessen mal getroffen, als ich vor einem Jahr in Hamburg war. Hat Jörn schon was gesagt?”
Sonja schüttelte den Kopf.
“Er ist informiert. Aber zum Notfallplan haben wir noch nicht gesprochen.”
“Alles klar“, sagte Karl. Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und wählte eine Nummer.
Während er auf die Verbindung wartete, sah er auf die Papiere, die er immer noch in der Hand hielt.
“Abflug Tel-Aviv, 12:46 Uhr.” stand in einer der kleinen Tabelle geschrieben und war fett markiert.
“Auf dem zweiten Blatt ist deine Boardkarte schon ausgedruckt“, sagte Sonja.
“Das ging aber schnell”, bemerkte Karl.
“Notfallplan,” sagte Sonja nur trocken und zwinkerte.
Die Verbindung kam zustande und am Ende der Leitung meldete sich Jörn.
“Karl,” sagte er. Für ein überschwängliche Begrüßung war keine Zeit. “Ich bin auf dem Weg ins Studio.” Jörn keuchte. Wahrscheinlich telefonierte er vom Fahrrad aus. Karl kannte das. Mit Jörn hatte er schon mehrere Gespräche geführt, bei denen entweder der eine oder der andere sich gerade auf dem Weg irgendwohin befand. Sie sprachen fast täglich.
“Setzt den Notfallplan ein.” Jörn atmete schwer, während er radelte. “Das ist genau das Szenario, für das er vorgesehen ist. Wir treffen uns in Hamburg. Richte dich schon mal auf die Tagesschau ein.”
Ich bin unterwegs, hätte Karl am liebsten geantwortet. Er brachte aber nur “Was ist mit meiner Familie?” heraus.
“Notfallplan”, sagte Jörn am anderen Ende. Karl lauschte den Geräuschen im Hintergrund und wartete vergeblich darauf, dass er mehr von seinem Gesprächspartner zu hören bekam. Irgendwo hupte ein Auto und Sirenen schrillten. Karl wurde mehr und mehr bewusst, welches Chaos über ihn herein gebrochen war.
Er legte auf und dachte sofort wieder an seine Familie.
“Du machst den Notfallplan?”, fragte er Sonja. Sie zeigte aber nur auf die Papiere in seiner Hand und nickte.
“Alles weitere kommt in deine Mails.”
Karl sah auf sein Smartphone.
Ohne eine Verabschiedung drehte er sich herum und begann erneut eine Nummer zu wählen.
Mit zügigen Schritten lief er durch die verlassenen Flure. Er hätte rennen können, aber das hätte die wenigen vorhandenen Angehörigen des Studios vielleicht unnötig in Unruhe versetzt. Nina war schon unterwegs und in einem Nachrichtenstudio gehörte es dazu, dass sich alles wie ein Lauffeuer verbreitete. Der Notfallplan war nicht allen Mitarbeitenden bekannt. Aber damit würde er sich später befassen. Sein nächstes Ziel war sein Büro.
Karl nahm zwei Stufen auf einmal, um in den zweiten Stock zu gelangen. Das Smartphone hielt er immer noch ans Ohr gepresst. Er fragte sich, ob die Betonwände die Verbindung nicht beeinträchtigen würden. Aber das Netz blieb stabil und das regelmäßige Tuten des Wartezeichens drang in sein Ohr.
Als er im Flur ankam, der zu seinem Büro führte, legte er auf. Er konnte nicht auf eine Mailbox warten. Er musst mit anderen Leuten sprechen.
Mit hastigen Fingern, ließ Karl die nächste Nummer wählen und öffnete die Tür zu seinem Büro. Die Morgensonne drang durch die Fenster hinein und Staubpartikel tanzten in der Luft. Die Einrichtung war eine wilde Mischung aus Tradition und Moderne. So hatte es sein Vorgänger vorgeschlagen, als er gegangen war.
Karl hatte nur den wuchtigen Schreibtisch gegen ein Modell aus Glas ausgetauscht und einen modernen Stuhl angeschafft. Das alte Ledersofa, der Sessel und das dunkle Bücherregal aus den 1970er Jahren hatte er behalten.
Sein Schreibtisch war sehr organisiert. Es gehörte zu Karl, dass er wusste, wo sich was befand. So nahm er mit sicherer Hand die Ledertasche, die er am Morgen an der Garderobe aufgehängt hatte. Er stellt den Lautsprecher der Smartphones an und legte die Tasche auf den Schreibtisch.
“Viola Merkerich”, meldete sich eine Stimme.
“Hier ist Karl“, antwortete er und holte eine kleine Dose mit Bluetooth-Kopfhörern aus der Tasche. Ohne sich zu unterbrechen, steckte er die Stöpsel ins Ohr.
“Die Hamas greift an. Der Notfallplan wird umgesetzt und ich muss nach Hamburg“, berichtete Karl kurz. Mit den freien Händen begann er Schubladen zu öffnen aus denen Dokumente und Gegenstände hervorquollen.
Viola antwortete nicht. Karls Hände begannen zu suchen. Er hatte seinen Reisepass noch nicht gefunden, da sah Karl auf.
“Viola?”, fragte er.
“Ich höre”, antwortete sie.
“Ich brauche dich im Studio. Hilf Sonja bei der Koordination und kümmere dich um die Berichterstattung. Wenn ich im Flieger bin, bin ich wahrscheinlich nicht mehr erreichbar. Ihr müsst euch um das Material kümmern und Hintergründe klären.”
“Ich soll also meinen Job machen?”, fragte Viola. Karl mochte ihren Witz in der Stimme. Er hatte ihn von dem Moment an gemocht, als er Viola getroffen hatte. Sie war wesentlich älter als er, erfahren und mit allen Wassern gewaschen. Das hatte ihm schon als junger Mann imponiert. Viola und Karl hatten im Rahmen einer internationalen Konferenz zu Karls Volontariatszeiten das erste Mal zusammengearbeitet. Dank Violas Einfluss war Karl zu der Stelle als Studioleiter in Tel Aviv gekommen.
“Ja“, sagte Karl und begann Dinge in seine Tasche zu stopfen. “Wann kannst du hier sein?”
“Ich denke in zwanzig Minuten.”
Karl sah auf die Uhr.
“Da werde ich wahrscheinlich schon weg sein. Ich melde mich von unterwegs.”
“Ist gut. Wir bekommen das hin.”
Von dem Optimismus, den der letzte Satz wahrscheinlich ausdrücken sollte, kam nur wenig an. Er wusste, dass er sich auf Viola verlassen konnte. Auf Sonja ebenso und alle anderen, mit denen er zusammenarbeitete. Das war seine Grundhaltung und die kam offensichtlich bei allen Beteiligten gut an. Er hatte nicht vor, das jetzt zu ändern.
“Danke. Ich weiß das sehr zu schätzen. Es ist schließlich Feiertag“, sagte er, einer Entschuldigung gleich.
“Und wir sind Journalisten“, erwiderte Viola. “Die Welt hält wegen uns halt nicht an.”
Diesmal klang die Weisheit von Viola stärker bei Karl an.
“Du hast Recht“, sagte er.
“Pass auf dich auf“, sagte Viola und Karl beendete die Verbindung.
Nina war in der Tür erschienen.
“Die Belegschaft ist unten im Foyer.”
Karl nickte.
Er griff die Tasche vom Schreibtisch und folgte Nina, den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Im Redaktionsraum war nun keiner mehr und alle Blicke empfingen ihn, als er in den großen Raum am Haupteingang trat.
Er wartete eine Sekunde, bis sich alle beruhigt hatten und Stille herrschte.
“Danke, dass ihr alle gekommen seid”, hörte Karl seine Stimme von den Wänden widerhallen.
“Ich habe schlechte Nachrichten für Euch. Eine werdet ihr sicherlich schon mitbekommen haben: Die Hamas hat Israel angegriffen. Um damit umzugehen, hat die ARD den Notfallplan in Kraft gesetzt. Das ist die zweite schlechte Nachricht. Ich weiß, dass ihr gerne zu euren Familien wollt. Es ist Feiertag und viele von Euch kennen Menschen, die selbst betroffen sind.” Karl hielt kurz inne und sah in die entsetzten Gesichter seiner Mitarbeitenden. “Scheiße, die haben Ashkelon angegriffen. Da wohnt meine Familie, und ich weiß einige von Euch auch.”
Karls Stimme wurde leise.
“Ich kann Euch nicht zwingen, hier zu bleiben und mit uns an Nachrichten zu arbeiten. Es ist unser Job, ja – aber ihr habt auch Leben und seid davon betroffen, was heute hier geschieht. Ich überlasse die Entscheidung euch.”
Einige der Kolleginnen und Kollegen nickten. Andere blickten immer noch ratlos ins Leere oder zu Karl.
“Im Notfallplan steht, dass ich auf dem schnellsten Wege nach Hamburg reise. Sonja wird hier die Leitung unternehmen. Viola ist ebenfalls auf dem Weg. Die beiden bleiben hier und mit mir in Kontakt, während ich unterwegs bin. Wer helfen kann und will, kann hierbleiben. Einige andere von uns holen wir noch rein. Ihr werdet auf keinen Fall auf Euch allein gestellt sein. Auch das sieht der Notfallplan vor und bietet noch ein paar Optionen, falls sich die Lage weiter verschlimmert. Nina kann euch mit den Details versorgen. Sie wird mit Sonja die Umsetzung koordinieren.”
Karl sah auf die Uhr.
“Ich muss mich leider jetzt beeilen. Ich danke euch, dass ihr hier seid. Bleibt sicher.”
Es gab kein Applaus, keine Aufregung. Nur Stille, während sich die Menschen in Bewegung setzen. Karl klopfte im Vorbeigehen noch ein paar Kollegen auf die Schulter, während andere mehr oder weniger zügig in die verschiedenen Richtungen davonliefen. Mit zwei anderen Kollegen wechselte er noch ein paar kurze Worte und war dann nur Sekunden später aus dem Gebäude.