Der Notfallplan – Kapitel 2

Draußen

Draußen brannte die Sonne bereits. Karls Körper fühlte sich an, als würde er gleich verkrampfen, als er in die heiße Luft im Freien trat. Keine Wolke war am Himmel.

Der Innenraum seines Autos hatte sich schon auf Backofen-Temperaturen aufgeheizt. Einen Parkplatz im Schatten hatte er am vorherigen Mittag nicht finden können. Sobald er in den Wagen gestiegen war, ließ Karl die Klimaanlage auf voller Kraft laufen, parkte mit Schwung aus und fuhr in Richtung seine Appartements nahe des Yarkon-Ufers.

Der Verkehr war ruhig und lief flüssig. Karl war sich nicht sicher, ob es an der Schockstarre wegen des Angriffs oder am Feiertag lag. Er war froh, dass er nicht wie sonst häufig schon geschehen, im Verkehr stecken blieb.

Während er fuhr, wählte er erneut die Nummer, zu der er vor ein paar Minuten keine Verbindung hatte aufbauen können. Er wollte seine Frau erreichen. Während er unter der Woche häufig in einem kleinen Appartement in Tel Aviv wohnte, war seine Familie in Ashkelon zu Hause. Vor ein paar Jahren hatten er und seine Frau ein kleines Haus mit Garten dort gekauft, um den Kindern ein ruhigeres Umfeld zu bieten, das in der Großstadt nicht zu finden war. Sie sollten behütet aufzuwachsen.

Als Studioleiter nutzte er ein Appartement, das er schon seit seiner ersten Zeit in Tel Aviv hatte. Damals, als er gerade angefangen hatte in Israel zu arbeitn. Zu der Zeit war allein gewesen, um die Stelle und die Stadt auszuprobieren. Fern von der Heimat, war es keine einfache Entscheidung mit kleinen Kindern in ein fremdes Land zu ziehen. So waren Madga und die Kinder erst später dazugekommen. Trotz einer weiteren, größeren Wohnung, die sie in Tel Aviv zu viert bewohnt hatten, hatte Karl an der kleinen Wohnung festgehalten. Sie war nicht groß und auch nicht luxuriös eingerichtet. Sie hatte alles, was Karl brauchte.

Und außerdem befand sie sich oberhalb einer kleinen Autowerkstatt und neben dem Café Zorik.

Beide Gebäude gehörten Moritz Lachmann, er betrieb auch das Café. Sein Freund Noor El Azza betrieb hingegen die Werkstatt. Beide hatte Karl über die Jahre kennen und schätzen gelernt. Moritz hatte immer ein freundliches Wort und einen Kaffee bereit für Karl – er behandelte alle Menschen so. Noor war nicht weniger freundlich. Und es gab nichts, was er nicht auseinandernehmen, reparieren und wieder zusammensetzen konnte. Er war das perfekte Gegenstück zu Moritz. Die beiden verstanden sich gut.

Bevor Karl den Volvo gekauft hatte, verbrachte er viele Abende und Nächte in der Grube in Noors Werkstatt, um an seinen immer klapprigen Autos zu schrauben. Moritz hatte sie mit Kaffee versorgt und mit Kommentaren die Arbeit der beiden anderen erheitert. Sie waren zusammengewachsen und verbrachten immer noch regelmäßig Zeit miteinander.

Café und Werkstatt waren am Feiertag geschlossen. Karl stellte den Volvo vor der Tür ab und stieg aus. Im Nuh war er in der Wohnung und begann zu packen. Während er das tat, bestellte er ein Taxi zum Flughafen. Die Kosten würde der Notfallplan decken. Ebenso auch für die Unterbringung und Verpflegung in Hamburg für ein paar Tage. Außer ein paar Klamotten, vielleicht noch ein zusätzliches Sakko und ein paar Arbeitsmaterialien, musste Karl nichts mitnehmen.

Keine zehn Minuten später stand er wieder auf der Straße und wartete auf das Taxi.

Wieder versuchte er Magda zu erreichen. Auf die Verbindung wartend, sah er auf die Uhr. Noch hatte er etwas Zeit, bis er im Flugzeug sitzen würde und nicht mehr telefonieren konnte.

Gerade als das Taxi um die Ecke bog und Karl es zu sich heranwinkte, meldete sich auch Madga.

“Hallo?”, fragte sie. Die Verbindung war schlecht und knackte.

“Magda?”, fragte Karl zurück. Die Stimme seiner Frau klang anders als gewohnt.

“Wo seid ihr?”, fragte Karl, als er keine Antwort bekam. Es fühlte sich an, als würde er in eine stumme Kammer sprechen und seine Stimme nur mit Verzögerung übertragen.

Endlich meldete sich Magda. Karl stieg ins Taxi ein.

“Ich bin mit den Kindern am Natsim Beach.”

“Du bist am Strand?”, fragte er seine Frau. “Seid ihr geflohen? Ashkelon wurde angegriffen.”

“Ja, ich hatte dir doch gesagt, dass ich mit den Kindern einen Ausflug mache. Von den Angriffen haben wir zu spät erfahren und jetzt können nicht zurück. Hier ist die Hölle los und niemand weiß, was zu tun ist. Es ist ein Chaos.”

Karls Herz rutschte in seine Magengrube, als er an die Kinder dachte. Was die Situation wohl in ihnen auslösen würde?

“Wie geht es den Kindern?”

Er versuchte in den Hintergrundgeräuschen herauszuhören, was sich am Stand abspielte. Hörte er Stimmen? Waren das Bomben im Hintergrund, die explodierten? Nein, wenn er etwas hörte, dann war es das statische Rauschen und Knacken in der Leitung. Kein Wunder, dass ich Magda nicht erreicht habe, dacht er. Die Infrastruktur Israels wurde durch die Bomben und Raketen mit Sicherheit ebenso verletzt, wie das Volk.

“Sie halten sich”, sagte Magda nach einer Ewigkeit und überließ Karl die weitere Interpretation. Ihre Stimme hatte trotz der schlechten Verbindung einen Ton, den Madga sonst nur nutzte, wenn Karl das Gefühl hatte, dass sie ihm ein schlechtes Gewissen machen wollte. Mit der nächsten Nachricht, die er ihr zu übermittelte, hätte sie dazu alles Recht gehabt: “Ich muss nach Hamburg und bin schon auf dem Weg zum Flughafen. Kannst du vom Strand wegkommen?”

Wieder dauerte es ewig, bis sich Magda meldete. Das Taxi schlängelte sich derweil durch den Verkehr. Karl sah zur Straße hinaus. Alles schien so normal und doch so still. Er hatte die Kopfhörer wieder eingesetzt und ließ das Handy auf den Sitz neben sich sinken.

“Wir müssen laufen. Busse fahren keine mehr.” Magda klang enttäuscht. “Ich kann fragen, ob uns jemand mitnimmt. Aber zurück nach Hause können wir nicht.”

“Ja, ich weiß. Vielleicht müsst ihr das aber auch gar nicht.” Karl hatte ein Idee.

Er nahm sein Handy wieder in die Hand und rief einen Kartendienst auf. Schnell hatte er Natsim Beach gefunden. Er sah sich die Umgebung an, ließ eine Route berechnen und wandte sich wieder an seine Frau. “Lauft nach Ashdod. Ich glaube ich habe eine Idee.”

“Laufen?”, fragte Magda. Mit einem Mal schien es Karl, als würde sie direkt neben ihm sitzen. Erschrocken sah er auf und nochmals auf die Karte.

“Ja. Am Stand entlang. Habt ihr genug Wasser?”

“Wir sind in dem Chaos hier ja noch zu nichts gekommen. Von unserem Picknick habe ich noch nichts ausgepackt und die Kinder haben auf dem Weg gefrühstückt.”

“Bis nach Ashdod sind es etwa 12 Kilometer. Könnt ihr das schaffen?”, fragte Karl. Er dachte an seinen achtjährigen Sohn Benjamin, der eine so weite Strecke noch nie gelaufen war. Seine dreizehnjährige Tochter Karla, würde den Marsch eher verkraften.

Von Magda kam keine Antwort.

“Ja, das schaffen wir“, sagte sie schließlich. Karl hatte schon wieder zur Telefonanwendung gewechselt. Er wollte sicher sein, dass die Verbindung noch stand.

“Aber was machen wir dann?”, fragte Madga.

Karls Kopf hatte schon wesentlich früher geschaltet, als es ihm klar geworden war. Der Plan lag auf der Hand – er gehörte so nicht zum Notfallplan, ließ sich aber ähnlich anwenden.

“Ich schicke euch Noor und Moritz. Die holen euch in Ashdod ab.”

“Noor und Moritz?”, fragte Magda zurück. Sie kannte Noor und Moritz nur von einem kurzen Treffen bei Karls Appartment, das schon Jahre zurücklag. Karl berichtete von ihnen, aber sie hatte die beiden stets mit einer gewissen Skepsis betrachtet.

“Sie holen euch ab. Ich habe sie noch nicht gefragt“, sagte Karl.

“Okay…”, erwiderte Magda unsicher. Karl glaube, dass sie nun aber gefasster klang. Sie schien sich auf seinen Plan einzulassen.

“Ich melde mich wieder, wenn ich mit ihnen gesprochen habe.”

Karl hoffte, dass sie ihm vertraute. Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass nur noch weniger als eine Stunde blieb, bis der Flieger abheben würde. Bis zum Flughafen blieb ihm noch eine gute halbe Stunde.

“Lauft los“, sagte er. “Ich melde mich später wieder. Passt auf euch auf.”

“Machen wir,” sagte Magda. “Du auch.”

Dann legten sie auf.

Als die Leitung verstummte und nur noch das Brummen des Taxis zu hören war, zog sich Karls Magengrube wieder zusammen. Hätte er noch mit seinen Kindern sprechen müssen? Würden sie seine Abwesenheit verstehen? Würden sie je wiedersehen? Sofort bereute Karl, dass er ihnen nicht gesagt hatte, wie sehr er sie liebte.

Die Sicherheit in Magdas Stimme zum Schluss ihres Gesprächs hatte ihm ebenso Kraft gegeben und die Zuversicht, dass er seine Familie wiedersehen würde.

Karl sah weiter aus dem Fenster. Der Fahrer hatte eine Route gewählt, die durch das Zentrum Tel-Avivs führte. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, einen Moment Ablenkung, um seine Gedanken zu ordnen und seine nächsten Schritte zu bedenken.

Das Vibrieren des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Blick darauf verriet, dass es Jörn war.

“Wo bist du?”, fragte Jörn als Karl abgehoben hatte. Wieder keine Begrüßung, dachte Karl.

“Ich sitze im Taxi und bin auf dem Weg zum Flughafen“, antwortete Karl, rutschte auf seinem Sitz zurecht und brachte sein Sakko in Ordnung. Es gab ihm das Gefühl, die Kontrolle über die Situation zu haben.

“Gut. Wir planen schon die Tagesschau und auch einen Brennpunkt danach. Richte dich mal drauf, dass du in mindestens einer Sendung deine Einschätzung abgeben musst.”

Karl verstand. Etwas anderes hatte er nicht erwartet. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass ihm ausreichend Zeit blieb, sich vorzubereiten. Allein der Flug würde ihm sechs Stunden geben, um die Geschehnisse für ein journalistisches Format aufzuarbeiten. Nachrichten waren sein Beruf. Aber für gewöhnlich benötigte er für seine Arbeit die Möglichkeiten des Internets. Und ob es das im Flugzeug gab, war fraglich. Wenn es jedoch verfügbar war und er vielleicht sogar telefonieren konnte, dann war eigentlich alles in bester Ordnung. Er konnte sich aber nicht darauf verlassen. Wie würde er dann auf dem auf dem Laufenden bleiben, und wissen, was in Israel geschah?

Sofort kehrte sein Gedanke wieder zu seiner Familie zurück.

“Ich muss mich um meine Familie kümmern. Mir bleibt nicht viel Zeit und ich muss noch ein paar Leute anrufen.”

“Mach das“, sagte Jörn. “Und dann meldest du dich wieder bei mir?”

“Sicher“ sagte Karl und schon war auch dieses Gespräch wieder beendet.

Das Taxi befand sich mittlerweile auf der Autobahn. Nun würde es schnell gehen, bis sie den Flughafen erreichten. Es blieb ihm immer weniger Zeit, um einen Ausweg für seine Familie zu finden. Aber er musste auch seinen Job machen. Hin und her gerissen, wählte Karl die nächste Nummer.

Das Tuten in seinen Ohren kündigte die Verbindung an. Er ließ es klingen. Einmal, zweimal. Nach dem dritten Mal hatte Karl Zweifel, dass sich irgendjemand melden würde. Er sah auf die Uhr, zählte die Sekunden und wartete zwei weitere Klingeln ab. Dann legte er auf.

Dieselben Gedanken wie zuvor schossen ihm durch den Kopf. Wen sollte er als nächsten anrufen? Die Zeit drängte, die Schilder der Autobahn kündigte schon ihre Ausfahrt an. Welche Nummer sollte er wählen? Es gab nur eine Möglichkeit.

Karl wählte.

Diesmal dauerte es nicht lange, bis jemand abnahm.

“Ja”, sagte ein Stimme auf Englisch. Sie klang belegt, als ob die Person gerade erst aufgewacht sei.

“Moritz? Bist du wach?”

“Machst du Witze, ich starre seit einer Stunde wie gebannt auf den Fernseher.”

“Ashkelon wurde angegriffen“, berichtete Karl.

“Und Be’er Sheva und Domina auch.”

“Ich habe versucht Noor zu erreichen. Weißt du, wo er ist? Ist er bei dir?”

“Keine Ahnung wo der ist?”, fragte der Cafébesitzer Moritz. Er hatte schon immer eine Art in der Stimme gehabt, die schien, als könnte sie nichts erschüttern. “Er ist wahrscheinlich wie ich zu Hause. Soll ich rüber gehen?”

“Auf jeden Fall.”

Die Reaktion am anderen Ende der Verbindung wies darauf hin, dass Moritz‘ Bereitschaft zu Noor zu gehen nicht ganz ernst gemeint war.

“Warte,” sagte Moritz mit einem Ächtzen. Karl stellte sich vor, wie sich Moritz aus seinem Sessel erhob. Sie waren zwar gleich alt, Noor, Moritz und er. Aber Moritz hatte mit Mitte Vierzig die schwersten körperlichen Gebrechen vorzuweisen. Hinzukam, dass er sich zu wenig bewegte und faul geworden war, was seine Gesundheit in den letzten Jahren zu sehr behindert hatte und Moritz Trägheit wieder nur verstärkte. Ein Teufelskreis, fand Karl.

“Ich nehme dich direkt mit“, sagte Moritz. Karl hörte, wie sich die Stimmen im Hintergrund entfernten. Er kannte Moritz Wohnung gut und konnte sich vorstelle, wie er durch die Küche zur Tür hinaustrat, um zum Nachbargebäude zu gehen.

“Ihr müsst mir einen Gefallen tun”, sagte Karl, um die weiter fortrennende Zeit nicht mit unnötigem Warten zu verschwenden. Das Telefon glitt über den Sitz, als das Taxi von der Autobahn abfuhr.

“Magda und die Kinder sind am Natsim Beach. Sie laufen nach Ashdod. Holt sie dort ab und bringt sie in Sicherheit. Ich bin auf dem Weg nach Hamburg. Der Sender braucht mich in Deutschland.”

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. War das Gespräch abgerissen, als Moritz ins Freie getreten war. Hatte er ihn verstanden?

Karl hörte eine Explosion, dann riss die Verbindung ab. Keine Sekunde später hörte er die Explosion erneut und drehte sich schreckhaft nach hinten.

Durch das Heckfenster sah die Welt normal aus, aber irgendwo in Tel Aviv musste etwas passiert sein.

Er versuchte erneut, fieberhaft, Moritz Nummer zu wählen.

Der Taxifahrer gab Gas. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Anscheinend wollte er seinen Fahrgast so schnell wie möglich loswerden und sich dann selbst in Sicherheit bringen.

Karl fluchte innerlich. Er musste sich festhalten, um nicht durch den Schwung, mit dem der Fahrer den Wagen bewegte, über die gesamte Rückbank zu rutschen. Diesmal war es sein Smartphone, das wieder klingelte. Das Display zeigt Violas Kontakt.

“Hi“, sagte sie knapp in dem Moment, als das Auto abrupt vor dem Flughafen zum Stehen kam

“Ich bin am Flughafen“, berichtete Karl. “In Tel Aviv ist eine Rakete eingeschlagen?”

“Ja“, sagte Viola. “Wir haben es hier auch gehört. Scheiße Karl, hier fliegt uns alles um die Ohren. Damit habe ich nicht gerechnet.”

“Ich auch nicht“, sagte Karl und zählte das Geld ab, das er dem Fahrer schuldete. Der Mann war gerade dabei, Karls Koffer aus dem Kofferraum zu holen. Sein Interesse galt aber vor allem den wild umherlaufenden Menschen und der in der Ferne aufsteigenden Staubwolke.

“Hast du nicht einen Kontakt beim Verteidigungsministerium? Bekommen wir da was raus?”, fragte Karl.

“Ich hab’s schon versucht, da geht keiner ran. Wir werden nur auf die offiziellen Kanäle verwiesen. Mein Kontakt meldet sich nicht.”

“Scheiße”, sagte Karl.

“Meine Frau und Kinder sind auf dem Weg nach Ashdod“, berichtete Karl, während er in das Flughafengebäude lief. Einige Menschen, die versuchten aus dem Flughafen zu fliehen, in den Karl hineinwollte, stolperten über seinen Koffer, den er hinter sich herzog. 

“Scheiße”, erwiderte Viola.

“Ich habe meinen Vermieter gefragt, ob er sie in Ashdod abholen kann. Dann ist aber die Verbindung wegen der Explosion abgerissen. Ich hab’ keine Ahnung, wie es ihm geht oder ob sie sich um Magda kümmern können.”

Viola antwortete nicht.

“Wie läuft es bei euch?”, fragte Karl. Er konnte nicht erwarten, dass sich Viola um seine Familie kümmerte. Sie mussten sich auf die Nachrichten konzentrieren.

“Die wir brauchen, sind fast alle da oder auch schon wieder unterwegs. Ich habe Anne van Leek nach Ashkelon geschickt. Sie wird aber keine Zeit haben, noch einen Halt in Ashdod einzulegen. Nicht, bei der Gefahrenlage.”

“Das ist mir klar“, pflichtete Karl bei. Er sah auf den Zettel, den Sonja ihm gegeben hatte und versuchte, sich an den Schildern im Flughafen zu orientieren. Eigentlich sollte ich den Weg kennen, dachte Karl kurz. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Telefonat.

“Anne schafft das?”, fragte er. “Sie ist noch so jung.”

“Keine Sorge. Ich wette, sie ist taffer, als du sie einschätzt. Wahrscheinlich weiß sie das selbst noch nicht einmal. Ich bin durch dieselbe Schule gegangen. Und, jetzt bedenke, wo ich stehe.”

Karl wusste, was Viola meinte. Sie selbst war eine erfahrene Fernsehfrau und Journalistin, die schon viel in der Welt erlebt hat. Anne stand jedoch noch am Anfang der Karriere. Sie war gut – Karl hatte ihr aber immer gewünscht, dass sie sich mehr zutraute. Das könnte nun ihre Chance sein.

“Gut, seid Ihr in Kontakt mit Jörn?”, fragte Karl.

“Klar. Sonja ist mir ihm schon seit einer halben Stunde im Videocall. Nebenbei telefoniert sie mit allen anderen. Sie hält die Maschine hier am Laufen.”

Nun war es Karl, dem beim Telefonieren langsam aus der Puste kam. Das stramme Tempo, mit dem er durch den Flughafen schritt, setzte seinen Puls unter Druck.

“Du sagst mir, also ich soll mir keine Sorgen machen?”, fragte Karl. Er hatte es halb scherzhaft gemeint. Viola blieb aber Ernst.

“Du sollst dir keine Sorgen um uns machen. Wir bekommen das schon hin. Wenn wir hier das Wichtigste versorgt haben, kann ich mich auch noch um deine Familie kümmern. Ich lasse es Sonja auch wissen, was du mir gesagt hast. Vielleicht fällt uns noch eine Möglichkeit ein.”

“Danke”, keuchte Karl. “Ihr habt auf jeden Fall etwas bei mir gut.”

Viola antwortete zuerst nicht. Wieder dachte Karl, die Verbindung wäre abgerissen. Instinktiv versuchte er, eine weiter Explosion zu hören.

“Ich weiß nicht, bei wem wir etwas guthaben. Aber ganz bestimmt nicht bei dir.”

Ihr schnippischer, fast schon zynischer Ton war eine schroffe Eigenart, gab Karl aber ein Gefühl der Ruhe und Gewohnheit.

Er war an der Sicherheitskontrolle angekommen.

“Pass auf dich”, sagte Viola nach einer weiteren Pause, in der Karl nichts gesagt hatte, da er einem Sicherheitsangestellten seine Papiere, seinen Reisepass und Presseausweis unter die Nase halten musste.

“Ihr auch“, erwiderte Karl, als er der Richtung folgte, die ihm die ausgestreckte Hand des Mannes wies.

Karl lief an den unruhig wartenden Menschen an den Scannerschleusen vorbei. Diesen Weg kannte er in der Tat, was sich aber hinter der Milchglastür am Ende des Korridors befand, durch die er hindurchmusste, wusste er aber nicht.