Der Notfallplan – Kapitel 3

Tel Aviv

Er betätigte die Klingel, die neben der Tür angebracht war. Die Tür öffnete sich automatisch und Karl pulte die Kopfhörer aus den Ohren. Er betrat einen großen Raum mit einer Handvoll Schreibtischen, die denen in der Check-In Halle des Flughafens ähnelten. Auf und über ihnen prangte kein Logo oder irgendein anderes Erkennungsmerkmal, das einen Aufschluss gab, um welche Airline es sich handelte. Hinter zwei Schreibtischen saßen junge Damen. Sie wussten offensichtlich von den Angriffen, was eine Abwechslung zu ihrer sonst wohl eher langweiligen Routine zu sein schien. Karl schob einer von ihnen eines der Papiere hin. Er erkundigte sich, ob er richtig sei und welchen Weg er gehen sollte.

Die junge Frau mit der er sprach, beschrieb das Treppenhaus und die weiteren Türen, durch die er musste, um an der richtigen Stelle auf das Rollfeld zu gelangen. Karl bedankte sich und die Frau starrte wieder auf den Bildschirm, auf dem ihre Kollegin die nationalen Nachrichten verfolgte.

Die einzelne Sicherheitsschleuse im Raum war nicht in Betrieb. Karl ging an ihr vorbei und folgte dem Korridor, den er beschrieben bekommen hatte. An einem Tisch, der hinter einer Biegung in sein Sichtfeld kam, tummelte sich eine kleine Gruppe Menschen. Putzfrauen mit Kopftuch und streng, aber interessiert dreinblickende Flughafenmitarbeiter in Warnwesten. Nur einer der Männer blickte kurz auf, als Karl an ihnen vorbei ging und die Tür zum Treppenhaus öffnete.

Hatte Karl sein Handy liegen lassen?

Karl tastete bei dem Gedanken, dass er mal nicht telefonierte alle Taschen ab. Das Smartphone befand sich aber in der Innentasche seines Sakkos. Normalerweise trug er es in der Hosentasche, so hätte ihn das ungewohnte Gewicht in der Jackentasche eigentlich ein Indikator sein sollen, dass er noch alles bei sich hatte, was er brauchte. Aber heute war gar nichts wie gewöhnlich.

Im Erdgeschoss angekommen, begann Karl wieder Moritz’ Nummer zu wählen. Es kam keine Verbindung zustande. Der Anruf wurde sofort abgebrochen. Karl versuchte es bei Noor – auf dem Festnetz. Aber auch hier kam er nicht durch.

Er wollte gerade erneut eine Nummer wählen, da kam er schon an der Tür an, die ihn ins Freie führte. Durch die Fenster hatte Karl schon gesehen, dass er von den großen Maschinen weg zu einem abgelegeneren Teil mit Chartermaschinen gelangt war.

Die Flugzeuge standen alle still. Aus gutem Grund. Es befand sich niemand auf dem Rollfeld oder im Anflug. Starts wurden auch keine durchgeführt. Über dem sonst so geschäftigen Flugbetrieb herrschte eine gespenstische Ruhe.

In der Luft draußen, lag ein Brummen. Es gehörte zu einer kleinen Propellermaschine, die mit laufendem Motor zwischen zwei Gebäuden knapp fünfzig Meter entfernt stand. Karl beäugte es skeptisch, als er ihm entgegen ging. Zur Sicherheit schaute er nochmals auf den Zettel. Sollte er wirklich mit dieser kleinen Maschine fliegen? Den geringeren Komfort würde er sicherlich verkraften. Aber selbst mit einem Linienflugzeug dauerte die Reise nach Deutschland gute sechs Stunden. Es war kein Katzensprung. Erst recht nicht, mit einem so kleinen Flugzeug.

Er könnte nach Ashdod fliegen und seiner Familie helfen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber fliegen konnte er nicht und eine Flugzeugentführung wäre in der Situation alles andere als angemessen.

Er hatte die Ecke des Gebäudes erreicht, da fiel sein Blick auf einen kleinen Jet. Eine Maschine, wie sie wohl vor allem reiche Leute nutzen – oder solche, die aus irgendeinem Grund wichtig waren.

Charterflüge waren für manche Journalisten keine Seltenheit. Es würde aber Karls erster sein.

Der Einstieg befand sich auf der vom Gebäude abgewandten Seite und als er um das Flugzeug lief, sah er auch schon Leute, die ungeduldig warteten. Sie trugen Uniformen, wie sie in Flugzeugen bekannt waren. Als sie ihn sahen, erhellten sich die Gesichter, die gewohnt waren, Gäste zu empfangen, auf eine professionelle Weise.

Karl winkte mit dem Papier. Die letzten Meter lief er.

“Herr Getlein?”, fragte der schlacksige Mann, der neben seiner zierlichen und wesentlich kleineren Kollegin stand.

“Der bin ich”, antwortete Karl.

“Wir sollen sie nach Hamburg bringen“, führte der Mann fort. Er sah auf eine Uhr. “Wir haben noch ein paar Minuten und müssen uns noch nicht beeilen. Nehmen Sie aber gerne schon Platz. Ihren Koffer verstauen wir gerne für Sie.“

Karl folgte der jungen Frau zur kleinen Treppe, die an der Einstiegklappe befestigt, bis zum Rollfeld herunter ragte. Die junge Frau war schon oben angekommen, Karl wollte gerade seinen Fuß auf die unterste Stufe stellen, da heulten die Sirenen von den Dächern des Flughafens.

Karl wusste zunächst nicht, wie er reagieren sollte. Normalerweise würde er in einen Bunker flüchten, so wie es in unzähligen Drills schon geübt worden war. Aber hier, auf dem Rollfeld, gab es keinen Bunker. Sollte er zurück zum Gebäude flüchten?

Das Heulen war noch nicht richtig angeklungen, da war die junge Frau auch schon die Treppe wieder hinabgestiegen. Der junge Mann, der seinen Koffer angenommen hatte, zog Karl am Arm.

“Kommen Sie! Abstand vom Flugzeug!”, befahl er. Nach einigen Schritte, sie waren schon fast wieder am Flughafengebäude angekommen, wie ihn der Mann an: “Auf den Boden!”

Die Sirenen schrillten über das Rollfeld. Sie waren so laut, dass sie alles übertönten. Karl blickte umher und sah, wie auch die letzten Bewegungen auf dem Flughafengelände zum Erliegen gekommen waren und sich die Menschen ebenfalls auf den Boden legten. Warum sie sich hinlegen musste, leuchtete Karl nicht ein. Er hatte aber in seiner Zeit in Israel gelernt, dass es in solchen Situationen in der Regel nicht zu raten war, Anweisungen zu hinterfragen.

Karl legte sich die Hände über die Ohren, damit die unmittelbar über seinem Kopf befindlichen Sirenen etwas gedämpft wurden. Es war aber schon zu spät. Sein Gehör rauschte und klingelte zugleich.

Es wirkte wie eine Ewigkeit, bis der Alarm leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Noch nie hatte er einen Luftalarm wie diesen erlebt. Noch nie hatte er einen Tag wie diesen erlebt, schoss es Karl durch den Kopf. Dass einmal ein Tag wie dieser kommen würde, der Tag an dem der Krieg ausbrach und er sich mittendrin befinden würde, war ein kalkuliertes Risiko gewesen. Auch deshalb hatte er die Stelle in Tel Aviv überhaupt angenommen. Er hatte es sich immer anders vorgestellt. Und nun war er aber damit gefangen. Seine Gedanken kreisten um seine Familie und seinen Job den er zu tun hatte.

Karl lag immer noch auf dem Boden. Die Morgensonne hatte ihn erwärmt und er war froh, dass er im Schatten des Gebäudes lag. Der warme Wind sauste ihm durch die Haare. Er sah auf die Uhr. Eigentlich hätten sie in wenigen Minuten schon in der Luft sein sollen. Die Flugbegleiter lagen in einigen Metern Entfernung ebenfalls auf dem Boden. Sie sprachen leise miteinander und sahen wie Karl immer wieder zum Flugzeug. Verlassen und mit laufenden Triebwerken wartete es auf den Abflug.

Ruhe war über dem Rollfeld eingekehrt, da rief der Pilot zu ihnen hinüber. Er hatte sich nicht so weit vom Flugzeug entfernt. Er war schon wieder aufgestanden und sah auf die Uhr.

“Kommen Sie, wir müssen los.”

“Aber der Luftalarm“, antwortete die junge Frau, als sie sich aufrichtete.

“Wir haben einen festen Slot. Der Luftraum ist nicht gesperrt, aber das kann sich ändern. Wenn wir die Chance nicht nutzen, stecken wir womöglich hier fest.”

Der Flugbegleiter, der junge Mann, der Karl weggezogen hatte, sah zu ihm hinüber. Karl konnte die Frage in seinem Blick erkennen, aber nur mit einem Schulterzucken darauf antworten.

Der Flugbegleiter robbte über den Boden zu ihm hinüber. Der Pilot stand noch immer ungeduldig am Fuß der Treppe.

“Was meinen Sie?”, fragte der junge Mann, als er sich etwas genähert hatte. “Wir sollten noch mehr Journalisten mit nach Hamburg nehmen. Sie sind aber nicht erschienen. Sie sind der Einzige auf diesem Flug. Es liegt also bei Ihnen.”

Karl verstand, dass er nun eine Entscheidung zu treffen hatte. Sofort waren seine Gedanken aber wieder bei Magda und den Kindern. Würde er sich nun erheben und zum Flugzeug gehen, so stieg die Chance, dass er ihnen nicht mehr helfen konnte. Andererseits, dessen war sich Karl sicher, waren seine Möglichkeiten ohnehin gebremst, aber aus der Luft und von Hamburg aus würde er sich um ihre Sicherheit besser kümmern können, als weiter auf dem Asphalt zu liegen. Den Flughafen würde er, wenn es schlecht lief, wohl sonst kaum für den Rest des Tages verlassen können.

Karl dachte noch ein paar Sekunden nach, fand aber dann, dass er die Entscheidung schon getroffen hatte bevor ihm der junge Mann überhaupt die Option dazu gestellt hatte.

“Wir fliegen”, bestätigte Karl und erhob sich. Seine Tasche hängte er sich wieder über die Schulter und ging zusammen mit den Flugbegleitern zurück zum Flugzeug.

“Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren“, sagte der Kapitän in einem ernsten Ton. Er sprach eher zu den Flugbegleitern, als zu Karl. Er grüßte ihn nur knapp mit einem Nicken und dann mit ein paar schnellen Schritten im Cockpit verschwunden.

Die junge Frau folgte dem Piloten, Karl folgte ihr.

Beim Eintritt in die Kabine hörte Karl, wie der Pilot mit dem Tower über Funk diskutierte. Während der junge Mann draußen noch die letzten Vorbereitungen traf, zeigte die junge Frau Karl, wo er sich hinsetzen konnte. Acht große lederne Sessel standen bereit und machten einen einladenden Eindruck. Sie waren an den Seiten der Kabine verteilt und bildeten mit kleinen Tischen zwischen ihnen regelrechte Sitzgruppen.

Karl ließ sich nieder und schnallte sich an. Seine Tasche verstaute die Flugbegleiterin im “Compartment”. Karl wollte der deutsche Begriff für das Fach nicht einfallen und er wunderte sich, wie er sich in dieser Situation mit Vokabeln beschäftigen konnte.

Der junge Flugbegleiter schloss die Kabine von innen und setzte sich dann neben seine Kollegin, die auf den einfacheren Sitzen weiter vorne im Flugzeug Platz genommen hatte.

Karl wartete und fragte sich, ob sie überhaupt eine Flugfreigabe bekommen würden. Der Luftalarm war noch keine fünf Minuten verklungen. Gerade als Karl nochmals darüber nachdachte, dass er das Flugzeug wieder verlassen könnte, begann sich die Außenwelt in Bewegung zu setzen.

Er nahm sein Smartphone zur Hand und wählte nochmals Moritz Nummer. Er hörte zwar das Wartezeichen. Aber es nahm niemand ab. Karl legte auf, dann wählte er Magdas Nummer. Auch sie antwortete nicht. Karl entschied sich, dass er ihr Moritz’ und Noors Kontakt senden würde. Vielleicht würde wenigstens das in der Zeit helfen, in der er sich in der Luft befand. Er würde nicht mehr telefonieren können, dachte er.

Würde das Flugzeug aber vielleicht sogar modern genug sein und schon über eine Internetverbindung verfügen? Konnte er vielleicht doch telefonieren? Es würde eine Chance sein, entschied Karl. Da klingelte plötzlich sein Handy. Es war Sonja.

“Sonja“, sagte Karl.

“Könnt ihr fliegen?”, fragte sie nur trocken.

“Sieht so aus”, antwortete Karl und sah aus dem Fenster, an dem das Flughafengelände in einem gemächlichen Tempo an ihm vorbeizog. Sofort spürte er aber, wie sich die Flugbegleiter nach ihm umsahen.

Sie winkten Karl, wahrscheinlich wollten sie ihn dazu bewegen, das Gespräch zu beenden. So modern schien das Flugzeug also nicht zu sein, dachte Karl.

“Wir fliegen jetzt los. Ich weiß nicht, ob ich mich melden kann zwischendurch.”

“Okay. Dann rechnen wir jetzt mit deiner Funkstille. Viola lässt ausrichten, dass wir Leute in nach Ashkelon schicken, ein Team ist auf dem Weg zur Kabinetts-Pressekonferenz. Rechne mal mit Kommentaren vom Präsidenten für heute Abend. Jörn sagt, dass die Reaktion aus Berlin gerade noch auf sich warten lässt. Social Media beginnen gerade zu explodieren.”

“Schick mit die Zusammenfassungen und ein paar Notizen per Mail“, wies Karl sie an. Die Flugbegleiter winkten weiter und wirkten zunehmend genervt. Karl nickte und bat mit einem gehobenen Finger um Einhalt.

“Nina sitzt schon dran und bedient den Ticker“, bestätigte Sonja.

“Gut”, sagte Karl. “Ich muss jetzt hier Schluss machen. Falls ich mich irgendwie melden kann, werde ich es tun. Passt auf euch auf.”

“Alles klar“, erwiderte Sonja.

“Pass du auch auf dich auf“, schob sie noch hinterher und legte dann auf.

Karl nahm das Smartphone vom Ohr. Das Flugzeug begann stark zu beschleunigen und die Startbahn hinunterzujagen. In dem Moment bereute Karl, dass er Sonja nicht noch gebeten hatte, sich ebenfalls um Magda und die Kinder zu kümmern, wenn es Gelegenheit dazu gab.

Karl ergab sich dem Schicksal, legte die Hände in den Schoß und ließ sich von der Geschwindigkeit des Abflugs in den Sitz pressen.

Er war nun schon seit über sechsunddreißig Stunden wach. Das Adrenalin baute in ihm ab. Sein Körper sagte, dass es Zeit war. Er konnte nicht anders, als die Augen zu schließen. Er wollte dagegen ankämpfen, sich noch um die nächsten Schritte kümmern. Er musste doch noch etwas tun. Er konnte es aber nicht mehr. Er schlief ein.