Der Notfallplan – Kapitel 4

Luft

Karl schreckte hoch. Es mochte eine Erschütterung, eine Turbulenz gewesen sein. Vielleicht war es aber auch nur der wilde Traum gewesen, mit dem sein Verstand versuchte, ihn wach zu halten. Und in der Tat war Karl sofort wach. Er spürte keine Müdigkeit. Es war das Adrenalin, das ihm in die Halsadern schlug.

Mit wildem Blick sah er sich um, obwohl ihm sofort schon bewusst war, dass er sich in einem Flugzeug befand unter dessen Flügeln die lockeren Wolken in schneller Folge vorbeizogen.

In der Kabine war es ruhig. Das Rauschen die Triebwerke wurde von den Außenwänden stark gedämpft und nur ganz leise konnte er die Stimmen der Flugbegleiter hören, die sich in der kleinen Kochnische unterhielten.

Karl sah sich auch nach hinten nochmals um. Er fühlte sich verfolgt, beobachtet. Aber dort war niemand. Er war neben dem jungen Mann und der jungen Frau der einzige Mensch in der Kabine.

Sein Puls beruhigte sich und der Geruch von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase.

Die beiden Begleiter hatten längst gemerkt, dass er aufgewacht war und die junge Frau stand nur Sekunden später, eine volle Kaffeetasse auf einer Untertasse balancierend, neben ihm.

“Kaffee?”, fragte sie, wartete seine Antwort nicht ab und schob das dampfende Getränk auf die Tischplatte vor ihm.

Eigentlich hatte Karl gar keine Lust auf Kaffee, besann sich dann aber dazu, dass ihm eine kleines Stück Normalität vielleicht helfen konnte, den wilden Traum zu verarbeiten. Er konnte sich nur an Fragmente erinnern. Während er an dem heißen Getränk nippte, zogen Bilder eines viel zu großen, mit Menschen vollgepackten und viel zu kleinen Raum vorbei.

Er war wieder in der Realität angekommen und bemühte sich, die Albtraum artigen Bilder in die hintersten Winkel seines Bewusstseins zu verbannen.

Nachdem er die Hälfte der Tasse geleert hatte, fühlte er sich schon besser.

Er hatte seitdem er begonnen hatte den Kaffee zu trinken unter der Beobachtung der Flugbegleiter gestanden, auch wenn sie sich bemühten, es nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Verstohlen bemühten sie sich um ein Gespräch, sahen aber immer wieder zu dem einzigen Gast in der Kabine hin als wollten sie sich versichern, dass er immer noch da war.

Karl winkte sie zu sich. Diesmal kam der Mann.

“Ich kann in dem Flugzeug nicht telefonieren, richtig?”

“Leider, nein”. bekam er als aufrichtig bedauernde Antwort.

“Und das Internet?”

“Dafür ist unser Flugzeug leider zu alt. Und außerdem würden die Funksignale die Instrumente im Cockpit zu sehr beeinträchtigen.”

Karl wusste, dass dies eine Lüge war. Ein Märchen der Luftfahrt, dass sich seit dem Aufkommen von Mobiltelefonen in das Bewusstsein der Menschheit eingebrannt hatte. Obwohl es sehr wohl nur dann ein Problem darstellte, wenn hunderte von Geräten in den großen Linienmaschinen versuchten, eine Verbindung aufzubauen. Das würde hier wohl kaum der Fall sein. Karl war aber nicht in der Stimmung, eine Diskussion anzuzetteln – obwohl es in der Situation sicherlich angemessen wäre. Aber was sollte jetzt sonst anderes tun.

“Ich muss Kontakt zu meiner Familie aufnehmen. Sie sind in Ashdod. Sie haben den Angriff knapp überlebt. Ich muss versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen“, sagte Karl in dem Versuch, Mitleid bei dem jungen Flugbegleiter zu erregen.

Der junge Mann zeigte eine recht betroffene Miene und drückte mit einem verlegenen Hochziehen der Schultern sein Bedauern aus. Es reicht Karl als Antwort und ließ sich wieder in den reich gepolsterten Ledersitz sinken. Sein Blick führte zum Fenster hinaus und er dachte nach.

Sollte er wirklich gefangen sein? Verurteilt dazu, untätig zu sein? Karl wollte sich seiner Situation nicht ergeben. Er blickte auf die Uhr. Die Sonne schien zum Fenster herein. Sie waren nun schon seit über drei Stunden in der Luft. Der Schlaf, der Karl übermannt hatte, hatte gutgetan. Er fühlte sich nur mäßig erfrischt, ausgeruht zu sein fühlte sich auch anders an. Wobei Karl es durchaus gewohnt war, zeitweise mit wenig Schlaf auszukommen. Es gab ihm eine Art Antrieb und spornte ihn an, wenn er gleichzeitig auch gegen eine latente Müdigkeit ankämpfen musste.

“Kann ich denn gar nichts tun?”, fragte er den Flugbegleiter und blickte auf seine Tasse. Der Flugbegleiter hatte ihm sie mit frischem Kaffee gefüllt.

Er schien die Frage nicht richtig verstanden zu haben. “Wir können Ihnen ein Filmangebot oder ein Buch aus der Bibliothek anbieten. Falls wir über die Lautsprecher Musik abspielen sollen, müssen Sie mir nur sagen, was wir spielen sollen. Der Medienserver an Board ist nicht auf dem neuesten Stand, wir finden aber sicherlich etwas, das Ihren Geschmack trifft.”

Karl empörte sich innerlich über den Gedanken, dass er Luxus und Ablenkung geboten bekam, während ein paar Flugstunden entfernt das Chaos ausbrach, Menschen starben und Krieg herrschte.

Er würde gewiss nicht einfach nur herumsitzen und sich berieseln lassen, während andere um ihre Leben kämpften. Wenn er doch nur könnte, dachte Karl, so würde er sich an ihrem Kampf beteiligen und alles dafür tun, dass sie überlebten. Egal wer, ungeachtet der Herkunft, Seite, Ansicht, Gedanken oder Überzeugungen. Hauptsache, seine Familie würde dadurch überleben und er könnte sie wieder in die Arme schließen.

Der Blick aus dem Flugzeug hielt Karls Gedanken gefesselt. Es fiel ihm schwer sich davon abzuwenden. Die Sonne stand noch genauso am Himmel, wie sie es schon vor einer Stunde getan hatte. Die lockeren Wolken, über die sie hinweg flogen, hatten sich auch kaum geändert und langweilten ihn.

Den letzten Schluck Kaffee schlürfend, sah Karl wieder auf die Uhr. Sie wären noch mindestens drei Stunden unterwegs. Drei lange Stunden, in denen sie über Länder und Meere folgen, damit er in ein Studio in Deutschland kam. Der Kaffee weckte Karls Gedanken. Normalerweise arbeitete Karl fast ausschließlich im Internet. Er würde aber auch ohne eine Verbindung etwas unternehmen können.

“Wirklich kein Internet?”, fragte Karl die junge Frau, die sich in der kleinen Küche zu schaffen machte und die Kaffeemaschine und benötigten Utensilien wieder an ihren Platz räumte.

Sie schüttelte den Kopf. “Leider nein“, sagte sie sanft und zog wie zur Entschuldigung ihre buschigen Augenbrauen nach oben. Unter ihren großen Augen und der schlanken Nase blitzen im breiten Mund ihres mandelförmigen Gesichts strahlend weiße Zähne beim Lächeln hervor.

Karl kniff die Lippen zusammen und begann zu arbeiten.

Er begann den letzten Abgleich seines Maileingangs zu bearbeiten. Bis in den Flughafen hatte über sein Smartphone eine Verbindung zum Internet bestanden. Der Laptop hatte sich konstant aktualisiert. Alle Eingänge, Apps und Programme waren damit zwar auf einem mehr als drei Stunden alten, aber halbwegs aktuellen Stand. Seine Kolleginnen und Kollegen hatten ihm Mails und Nachrichten geschickt. Karl hatte ihren Eingang auf dem Smartphone ignoriert oder nicht mitbekommen. Er war schließlich die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, mit allen zu telefonieren.

Die letzten Mails, die eingegangen waren, beschäftigten sich mit der Umsetzung des Notfallplans. Es war Sonjas Statusbericht und ein Update dazu, welche weiteren Schritte folgen würden.

Von Nina bekam er News-Updates. Sie würde noch an ihrer Form arbeiten müsste, dachte Karl während er las und am Kaffee nippte, es war aber auf jeden Fall mehr als ausreichend, um über die Entwicklungen, die sich ergeben hatten eine guten Überblick zu bekommen. Zu gerne hätte Karl gelesen, welche Beiträge für den Brennpunkt am Abend schon geplant waren und welche Hintergründe bekannt geworden waren. Das musste aber warten. Von Viola war noch keine Nachricht in seinem Postfach. So würde es wahrscheinlich auch für die nächsten drei Stunden bleiben. Zumindest so lange, bis Karls Smartphone und Laptop wieder, in Symbiose, auf die Verbindungen zum Internet zugreifen konnten.

Karl machte noch ein paar Notizen, legte einige Aufgaben an und scrollte durch die anderen Nachrichten, die sich in den letzten Tagen ungelesen in seinem Postfach angesammelt hatten. Sie hatten an Priorität, Bedeutung und Aktualität allesamt verloren. Nutzlos waren sie nicht, aber sie halfen Karl nicht, mit der Situation anders umzugehen und beschäftigten sich mit Themen, die er zu einem späteren Zeitpunkt würde bearbeiten müssen. Karl liebte Projekte und mochte es, sie zu managen, seine journalistische Arbeit war dadurch aber in den letzten Monaten auf ein Minimum gesunken. Er hatte es immer gemocht, an vorderster Front dabei zu sein, von der Kamera begleitet und ganz nah dran an den Geschehnissen, die sich entwickelten. Er hatte schon verschiedene Krisenherde auf dieser Welt mit begleitet und dabei auch viel Kummer gesehen. Es hatte ihn immer berührt, aber Karl auch angespornt, sein Bestes zu geben. Wenn er seinen Job als Journalist gut machte, dann lag ihm auch die Macht zu Füßen, auf die Geschehnisse der Welt mit einzuwirken. Und so dazu beizutragen, dass die Menschen, die den meisten Kummer erlitten, davon erlöst und geheilt wurden. Diesen Ethos hatte er nicht gelernt. Es war sein ganz eigene Überzeugung und er war stolz darauf.

Karls Gedanken schweiften ab, kamen aber in dem Moment zurück, als er über den militärischen Aufruhr nachdachte, der nun in Israel stattfinden musste. Es war eine völlige Überraschung gewesen, dass der Angriff erfolgte. Anzeichen des Konflikts hatte es schon immer gegeben. In den letzten Monaten war es schon immer hin und her gegangen zwischen den verfeindeten Gruppen. Diese Eskalation hatte aber niemand kommen sehen.

Karl hatte gerade darüber nachgedacht, wie sich wohl nun der gesamte militärische Apparat Israels in Bewegung setzte und miteinander kommunizieren musste. Ihn streife die Idee des „guten alten“ terrestrischen Funks. Die meisten Militäreinheiten waren mit Funkgeräten ausgestattet, damit sie über weitere Distanzen kommunizieren konnten.

Warum machte er sich den Funk nicht selbst zu nutze? Würde das gehen? Ein Versuch war es wert und alle Mal besser, als untätig zu bleiben.

Karl legte den Sicherheitsgurt ab, erhob sich und ging zum vorderen Teil des Flugzeugs. Die beiden Flugbegleiter blickten ihn sofort aufmerksam an. Professionelle Augen versuchten seinen Wunsch zu erkennen, bevor Karl ihn geäußert hatte.

„Kann ich, vielleicht…“

Karls kratzte sich in einer Übersprungshandlung am Dreitagebart. Vor der Sendung am Abend würde er sich rasieren müssen, fiel ihm ein.

„Ist der Captain zu sprechen?“, fragte er schließlich.

Die beiden Flugbegleiter sahen sich für eine Sekunde mit überraschtem Blick an.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte der Mann. Er erhob sich von seinem Sitz und bewegte sich an seiner Kollegin vorbei auf Karl zu. Der Flugbegleiter positionierte sich im Gang vor der Tür zum Cockpit. Es war weniger eine Geste der Abweisung, sondern viel mehr eine professionelle Geste, dass er sich gerne um alle Anliegen kümmern wollte, die ihr einziger Fluggast heute haben würde.

„Kann ich Ihnen vielleicht noch etwas bringen, oder möchten Sie jetzt einen Film sehen?“, fragte er, als sie sich auf Augenhöhe ins Gesicht sehen konnten.

„Nein, es ist wirklich alles okay. Mir geht es gut“, antwortete Karl. Seine Zufriedenheit mit dem Service an Bord würde er später nochmals deutlich machen. „Ich würde nur gerne kurz mit dem Captain reden, ob es vielleicht möglich ist, das Funkgerät an Bord zu nutzen.“

Das Flugzeug wackelte durch die leichten Turbulenzen in der Luft. Sie kamen immer wieder vor. Insgesamt war es ein sehr ruhiger Flug gewesen, bisher. Er war schon häufiger geflogen und hatte auch schon während manchen Stürmen in Flugzeugen oder Hubschraubern gesessen. Im Vergleich dazu, waren es paradiesische Verhältnisse, in denen er sich befand. Die schlimmsten Turbulenzen, die Karl bei diesem Flug zu spüren bekam, spielten sich in seinem Inneren ab.

Der Flugbegleiter sah ihn für einen Moment verdutzt an. Offensichtlich war er auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen. Wieso auch? Die Frage nach dem Capitan kam bei Luxus-Charterflügen zwar vor, anscheinend aber nur dann, wenn er oder seine Kollegen ihren Job nicht ordentlich gemacht hatten.

„Meine Familie ist in Ashkelon. Sie ist in Gefahr und ich würde gerne versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.“ Karl versuchte so ruhig und deutlich wie möglich zu sprechen. Er wollte sich auf keinen Fall, durch eine aufgeregte und panische Sprechweise, seine Chance verbauen, Magda, Benjamin und Karla zu helfen.

Der Flugbegleiter nickte mit ehrlich wirkendem Bekümmern.

„Nehmen Sie bitte kurz Platz. Ich werde im Cockpit nachfragen, was wir für sie tun können. Bei den Turbulenzen ist es sicherer, wenn Sie sitzen.“

Karl nickte und setzte sich wieder, während der Flugbegleiter zum Cockpit trat und vorsichtig an die Tür klopfte.

Karl beobachtete, wie sich die Tür öffnete, die Köpfe des Kapitäns und des ersten Offiziers zum Vorschein kamen und bei der Beschreibung von Karls Bitte an dem großen jungen Mann vorbei zu ihm blickten. Er konnte nicht hören, was sie sprachen, der Austausch dauerte kaum eine Minute. Der Kapitän und der erste Offizier hatten sich schnell beraten. Der erste Offizier erhob sich und schob sich durch die kleine Öffnung in den Gastraum.

Der schlanke Mann mit freundlichem Lächeln, einem steif gebügeltem weißen Hemd mit kurzen Armen und blauen Schulterklappen fragte Karl kurz, ob er sich neben ihn setzen dürfte und ließ sich nach Karls Einladung auf dem freien Platz am Gang nieder.

Sie mochten das gleiche Alter haben, stellte Karl fest, als ihm die feinen grauen Strähnen im braunen Haar des Mannes auffielen. Auch die kleinen Fältchen auf Stirn und um die Augen zeigten, dass der erste Offizier kein unerfahrener Pilot war.

„Ich bin der erste Offizier, Mark Holland. Mein Kollege hat mir zu verstehen gegeben, dass sie unser Funkgerät nutzen möchten?“

Das geschliffene Englisch und die kristallklare Aussprache wiesen darauf hin, dass er Mann aus England stammen musste. Er schien kaum über die Anfrage überrascht oder erbost zu sein. Eher interessiert.

„Meine Familie ist in Gefahr und ich möchte ihnen gerne helfen“, beschrieb Karl erneut – er wiederholte die Information, die dem Mann sicher schon bekannt war. Auf ein paar Sekunden freundliche Konversation kam es jetzt auch nicht mehr an, wenn es bedeutete, dass er die Herren im Cockpit von seinem Plan überzeugen konnte.

„Ich würde gerne nach Israel funken. Wenn ich dort mit jemand sprechen kann, der meiner Familie helfen kann“, sagte Karl. Die Information, wie es ihm helfen würde, einen angenehmeren Flug zu erleben, schluckte er hinunter. Es erklärte sich sicherlich von selbst, dachte er.

Der Offizier musste nur kurz nachdenken. Anscheinend hatte er die Situation schnell erfasst und verstanden. „Wie stellen sie sich das vor?“, fragte er. „In Isreale herrscht Chaos. Wir haben kaum noch ordentlich mit dem Tower und der Flugsicherheit sprechen können. Alle sind in Alarm und kümmern sich gerade um die Gesamtsituation. Mit Verlaub, wie wollen sie dort jemand finden, der Zeit hat, sich mit Ihnen und Ihrer Familie zu beschäftigen?“

Der professionelle Ton des Mannes wirkte wie Balsam auf Karls Seele, denn er spürte, wie eine ehrliche Hilfsbereitschaft eine starke Basis bildete, an der die Zweifel der Umsetzbarkeit nagten.

Karl, der seinen Plan noch nicht ganz zu Ende gedacht hatte, kam eine Idee: „Wenn ich Ihnen eine Frequenz und ein Funkzeichen gebe, dann können Sie sicher eine Nachricht übermitteln.“

Der erste Offizier dachte für einen Moment nach.

„Das könnte funktionieren. Haben Sie die Daten? Ich muss das mit dem Captain besprechen“, sagte er schließlich.

Karl nickte.

„Geben Sie mir einen Moment?“

Nun nickte der Offizier und erhob sich.

Während der Mann ins Cockpit zurückkehrte, kramte Karl in der Dokumentation über die Ausstattung des Sendebüros in Tel Aviv. Die Funktechnik dort war zwar nicht mehr auf dem neuesten Stand. Aber die Funkanlage war Teil des Notfallplans und wenn Sonja den Plan so gewissenhaft umsetzte, wie sie auch sonst arbeitete, würde die Funkstation bemannt sein. Karl sah vor dem inneren Auge, welche Kollegen dafür in Frage kamen und wer von ihnen, in der gegebenen Situation, wahrscheinlich damit beauftragt wurde, die Funkverbindungen zu betreuen.

Als er die Information gefunden hatte, amüsierte er sich kurz darüber, welchen technischen Rückschritt es doch eigentlich bedeutete, da sie in einem Zeitalter und eine Zivilisation lebten, in der das Internet und seine Möglichkeiten doch alles umgaben und so vieles einfacher machten. Insbesondere die Kommunikation. Warum war er nicht schon früher auf die Idee gekommen, dass er den Flugzeugfunk nutzen konnte?

Das Gespräch im Cockpit dauerte nicht lange und der erste Offizier winkte Karl zu sich heran. Mit dem Laptop in der Hand machte sich Karl auf den Weg ins Cockpit durch dessen Fenster die Sonne schien und kleine Wolken die unter ihnen hinwegzogen zu sehen waren.

Der Kapitän hatte sich Karl zugewandt. Er lächelte freundlich. Das Cockpit war sehr eng und Karl fragte sich, wie die beiden Menschen nur hineinpassten, umgeben von den vielen Monitoren, Schaltern, Hebeln und Lichtern mit wenig mehr als einem Schießscharten-Ausblick.

„Ich bin Captain Loam“, sagte der Kapitän auf deutsch. Sein starker Dialekt und die Intonation der Stimme veranlassten Karl auch eine spanischsprachige Herkunft zu schließen. Er war wesentlich älter als der erste Offizier und Karl. Auch seine Falten im runden Gesicht verwiesen darauf, dass er schon viel Erfahrung im Flugbetrieb gesammelt hatte. Ohne einen weiteren Kommentar, wechselte er ins Englische, in dem er viel besser zu verstehen war.

„Da haben sie aber mal einen ungewöhnlichen Vorschlag“, sagte er. Es wirkte, als würde er loslachen.

„Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, sagte Karl.

Der Kapitän nickte.

„Haben Sie die Funkdaten?“, fragte der erste Offizier, der sich schon längst wieder auf seinem Platz befand und begonnen hatte, die Funkverbindung über kleine Knöpfe an einem Monitor vorzubereiten.

Karl übergab ihm den Laptop, damit er die Informationen ablesen konnte, die Karl gefunden hatte.

„Sie haben Ihre Familie in Israel?“, fragte der Kapitän. Er war immer noch Karl und dem Offizier zugewandt. Eine Hand ruhte auf der Cockpitkonsole, die andere lag lässig an der Kopfstütze des Pilotensitzes. Das Fliegen übernahm der Autopilot.

„In Ashkelon“, bestätigte Karl. „Sie sind am Stand und außerhalb der Angriffe. Ich habe Freunde, die ihnen versuchen wollen zu helfen.“

Das Lächeln aus dem Gesicht des Kapitäns gewichen. Er blickte immer noch freundlich zu Karl, aber eine echte Sorge und Betroffenheit ließ sich nicht verbergen.

„Ich habe so eine Situation noch nie erlebt“, sagt er mit einem Seufzen. „Und ich habe schon viel gesehen.“

Seine Falten wurden schmal, während er schmunzelte. Dann wurde seine Miene aber wieder ernst. Sehr ernst.

„Wobei, ich habe Mal einen Trupp Soldaten aus dem Falklandkrieg in einem Hubschrauber ausgeflogen. Das war noch dramatischer. Vor allem, weil ich noch nicht viele Flugstunden im Hubschrauber hatte.“ Er hatte seinen Finger gehoben und zog seine buschigen Augenbrauen nach oben. „Zwischen damals und heute kommt aber nicht viel wirklich aufregendes“, sagte er dann in einem entspannteren Ton.

Das Gespräch wurde vom ersten Rufzeichen des ersten Offiziers unterbrochen. Noch während er die Funkstation im Studio rief, reichte er Karl den Laptop zurück.

Gespannt lauschten sie zu dritt auf eine Antwort.

Der Offizier musste seinen Ruf wiederholen. Karl klemmte den zusammengeklappten Laptop unter den Arm und lehnte mich nach vorne.

Im Cockpit war das Knacken und Rauschen der Statik zu hören.

Der Kapitän biss sich auf die Lippe und sah Karl an.

Der Offizier wiederholte den Ruf ein dritte Mal. „Ich habe einen Fluggast hier. Einen Herrn Karl Getlein, auf dem Weg nach Deutschland. Wir rufen das Fensehstudio in Tel Aviv.“

Für einen Moment herrschte Stille.

Es knackte in der Leitung. Und eine Stimme meldete sich.

Die Antwort kam auf hebräisch über die Lautsprecher.

Karl konnte es nicht verstehen. Er konnte Herbräisch von anderen Sprachen unterscheiden. Mehr als ein paar Brocken hatte er in den Jahren als Studioleiter nicht gelernt – was ihn zeitweise ärgerte. Vor allem jetzt.

Die Antwort war zu schnell vorbei gewesen, als dass Karl hätte etwas verstehen konnte.

Wieder meldete sich die Stimme. Sie sprühte vor unverständlichem Zorn.

„Anscheinend freut sich da gerade jemand nicht so sehr, von Ihnen zu hören“, sagte der Kapitän und zog die Augenbrauen hoch.

Karl zuckte mit den Schultern. Noch bevor er sich eine Antwort überlegen konnte, sagte der Kapitän: „Probieren Sie es nochmal.“

Der Offizier nickte. Er wiederholte seine Rufzeichen und dass ich um eine Verbindung bitten würde. Er klang alles sehr professionell. So hätte er auch eine Antwort von seinen Mitarbeitenden erwartet, schoss es ihm durch den Kopf. Der Mensch auf der anderen Seite konnte unmöglich einer von den Mitarbeitenden im Studio sein.

Hektisch klappte Karl den Laptop wieder auf und sah auf die Zahlen, die er gerade dem ersten Offizier gezeigt hatte.

Ein paar Zeilen unter den Frequenzen und Rufzeichen entdeckte einen Hinweis. Es ging um den Notfallplan. In dem Scan war eine handschriftliche Notiz zu sehen, die die Handschrift des technischen Leiters trugen. Karl sah auf das Display, auf dem der erste Offizier die Frequenz eingegeben hatte. Er verglich die Zahlen und ohne Erlaubnis zu fragen oder wirklich zu wissen, was er tat, drehte er an einem der Knöpfe. Wie erhofft änderten sich die Zahlen auf dem kleinen Monitor und die Frequenz war geändert.

„Probieren Sie es jetzt nochmals, bitte“, sagte Karl.

Der Offizier war überrascht. Der Kapitän war regelrecht erbost.

„Was erlauben Sie sich?“, fauchte er.

„Ich habe Ihnen die falsche Frequenz gegeben. Ich habe nicht richtig hingesehen. Es tut mir leid. Jetzt sollte es gehen“, erklärte Karl.

Während der Offizier seine Ansage ins Mikrofon wiederholte, beruhigte sich der Kapitän wieder, sah aber Karl noch immer mit vorwurfsvollen Augen an.

Karl war sich seiner Schuld bewusst. Er suchte nach einer Entschuldigung – er kam aber gar nicht dazu eine zu geben.

Eine Stimme meldete sich. Sie klang wesentlich freundlicher, fast schon vertraut im hebräischen Einschlag der englischen Meldung. Der Offizier beschrieb kurz ihre Bitte und dass Karl mit jemandem im Studio sprechen wollte.

„Lassen Sie mich sehen, was ich tun kann“, sagte der Mann, dessen Stimme Karl nicht einordnen konnte. Noch während sie auf eine weitere Antwort warteten, ging Karl die ihm bekannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Studio im Kopf durch. Es wollte ihm aber kein Gesicht zu der Stimme einfallen.

Die Lautsprecher knackten und eine vertraute Stimme meldete sich. Es war Sonja.

„ARD Studio Tel Aviv“, sagte sie knapp. Ihr professioneller Ton war eine Wohltat für Karl.

„Sonja,“ rief Karl in den Raum. Der Offizier hob darauf hin die Hand, legte einen kleinen Schalter um und nickte Karl dann kurz zu.

„Sonja,“ wiederholte er. „Hier ist Karl.“

„Karl,“ klang es über die Lautsprecher. „Bist du nicht im Flugzeug? Wieso rufst du an? Konntest du nicht fliegen?“

„Doch, ich melde mich über Funk aus dem Flugzeug.“

„Auf dem Telefon?“

„Das ist Teil vom Notfallplan, habe ich herausgefunden. In gewisser Weise.“

Sonja antwortete nicht. Sie musste den Notfallplan kennen, insbesondere wenn sie mit Karl sprach. Und so wie er sie kannte, kramte sie gerade auf ihrem völlig überfluteten Schreibtisch nach dem Ordner mit der Dokumentation.

„Es spielt auch keine Rolle. Habt ihr etwas von meiner Familie gehört?“, fragte Karl in die Stille. Da er mit Sonja Deutsch sprach, sahen ihn der Kapitän und Offizier fast schon desinteressiert beim Sprechen zu. Der Kapitän drehte sich wieder der Instrumente zu und tat so, als sei Karl gar nicht anwesend.

„Noch nicht“, sagte Sonja. „Hast du weitere Infos?“

„Ich habe versucht Motiz und Noor zu erreichen. Meine Nachbarn. Bei einem Raketeneinschlag kurz vor dem Abflug ist die Verbindung abgerissen. Weißt du dazu was?“

„Es gab eine ganze Reihe an Einschlägen. Auch in der Nähe vom Fluss.“

„Ich gebe dir jetzt die Handynummern. Kannst du versuchen jemand zu erreichen?“

„Sicher“, sagte Sonja.

Karl zog sein Handy hervor. Im Nu hatte er die Nummern bereit und diktierte.

„Wie sieht es mit der Berichterstattung aus?“, fragte Karl.

Sonja berichtete ihm von den Planungen. Ein Team war unterwegs zur Grenze und berichtet von unterwegs. Die politischen Stellen und Pressekonferenzen waren besetzt und Viola setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um an Aussagen von höheren Stellen zu kommen.

Karl nickte, während er den Bericht hörte.

Der Kapitän deutete zwischenzeitlich auf die Uhr. Karl entging nicht, dass er nun schon seit einiger Zeit das Cockpit und Funkgerät blockierte und sich die Landschaft unter ihnen konstant änderte.

„Ich muss mich später wieder melden“, sagte Karl, als Sonja eine Pause in ihrem Report gefunden hatte. „Spätestens, wenn ich in Hamburg bin.“

„Ist gut“, hörte er Sonja noch sagen. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Karl bedankte sich höflich bei den beiden Herren und ging wieder zurück auf seinen Platz.

Er wollte etwas tun. Sofort nachdem er sich gesetzt hatte, klappte Karl seinen Laptop auf und versuchte zu arbeiten. Es gab nichts zu tun. Die E-Mails hatte er schon bearbeitet – die weiteren Aufgaben rund um das Studio und die Projekte mit den Sendern mussten warten. Niemand würde nun einen Gedanken daran verschwenden. Es gab einen Notfallplan zu befolgen.

Mit sorgenvollem Blick schweiften seine Gedanken wieder zu den Wolken und Bergen, die unter ihnen hinweg zogen.

Es würde wohl gar nicht mehr so lang dauern, bis sie Hamburg erreichten, stellte er fest und sah auf die Uhr.

Die letzten eineinhalb bis zwei Stunden würden nun wohl von alleine vergehen, dachte Karl. Zum ersten Mal war es ein Gedanke, der ihn beruhigte, seit er in das Flugzeug eingestiegen war. Er konnte nichts mehr tun, außer darauf zu hoffen, dass sich die Situation von allein entwickeln und lösen würde. Es war ein Vertrauen in die Sache, den Notfallplan und seine eigenen Fähigkeiten. Es würde sich lösen, war sein letzter Gedanke, bevor ihm, die Arme verschränkt vor der Brust, die Augen zufielen.