Der Notfallplan – Kapitel 6

Umweg

In der Tat kamen sie mitten in der Baustelle zu einer Ausfahrt und Toni lenkte den Wagen auf die Rampe aus dem Stau heraus. Die vormals ruhige und fremdbestimmt langsame Fahrt war wieder schwungvoller geworden. Karl machte sich darauf gefasst, dass er nun nicht mehr arbeiten konnte. Außerdem wollte er wissen, was Toni bei seinem Rennen gegen die Zeit unternahm.

Schon am Ende der Abfahrt machten sich die Auswirkungen der anderen Baustelle bemerkbar: Große Schilder wiesen darauf hin, dass die Bundesstraße gesperrt war und der Verkehr umgeleitet wurde. Toni ignorierte aber die Warnungen und Hinweise zur Routenführung. Karl wusste, Toni würde weiter, geradewegs auf die abgesperrte Bundesstraße zufahren.

Die Schilder kamen nun häufiger und die darauf präsentierten Distanzen bis zur Sperrung wurden auch immer geringer.

„Ähm, Toni. Ich will ja nicht meckern“, begann Karl.

„Dann lassen Sie’s doch“, unterbrach ihn Toni mit einem Lachen.

„Aber die Bundestraße…“

„Ist gesperrt. Habe ich vorhin selbst gesagt. Aber Sie wollten auf dem schnellsten Weg zum Sender, nicht?“

„Ja. Schon, aber die Baustelle.“

„Sorgt für den schnellsten Weg“, sagte Toni geheimnisvoll und blickte mit spielerischem Glanz in den Augen für einen kurzen Moment nach hinten.

Karl verstand, was sein neuer Freund ihm sagen wollte. Er war gespannt, welchen Kniff diese ehrliche Haut noch aus dem Ärmel zog.

Karl konnte schon die Sperren in einigen hundert Metern erkennen, die das Auto schnell und zeitweise mit nicht gesetzeskonform zügiger Fahrweise hinter sich brachte.

An der Absperrung angekommen, hielt der Wagen an. Karl wollte gerade fragen, was Toni nun vorhatte, da klingelte wieder sein Handy. Toni öffnete die Fahrertür und stieg aus. Am Telefon meldete sich Jörn.

„Karl“, sagte er. „Hat dich der Fahrer gefunden?“

„Toni? Ja, das hat er – wir haben uns gefunden, wenn man so will.“

„Gut. Wann bist du da?“

„Ich weiß es nicht. Gerade stehen wir vor einer Absperrung der Bundesstraße.“

„Die ist gesperrt. Nomalerweise, wäre das der schnellste Weg. Da ist aber an diesem Wochenende eine Großbaustelle.“

Karl sah aus der Windschutzscheibe hinaus und beobachtete Toni dabei, wie er an der Absperrung vorbei auf die Bundesstraße trat und sie in die ein und andere Richtung entlang sah.“

„Ja. Wir versuchen gerade den schnellsten Weg in die Stadt zu finden. Auf der Autobahn war Stau.“

„Okay. Du solltest nämlich doch jetzt etwas schneller in Studio kommen. Die Chefradaktion fragt schon nach dir und will die Sendung besprechen.“

„Okay“, sagte Karl und blickte auf die Uhr. Er war nun schon vor fast einer Stunde aus dem Flugzeug gestiegen. An normalen Tagen, selbst an denen mit viel Verkehr würde es niemals so lang dauern, ins Studio zu kommen. Aber heute war wohl doch auch in Deutschland kein ganz normaler Tag.

„Wann kannst du hier sein?“, fragte Jörn.

„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht, dass es lange dauern wird. Toni hat wohl eine Idee.“

„Der Typ ist gut, aber leider kennt er sich in Hamburg kaum aus.“

„Ich mich auch nicht“, bemerkte Karl. Er war hier immer nur zu Besuch.

Toni war zum Auto zurückgekehrt und steckte den Kopf durch die Tür. Er sah, das Karl telefonierte.

„Es wird nicht mehr lang dauern, bis wir da sind. Bis gleich“, sagte er und beendete das Gespräch, um sich auf Toni und seine Erkenntnisse zu konzentrieren.

„Können Sie kurz aussteigen und mir behilflich sein?“, fragte Toni.

Karl nickte. „Klar“, antwortete er und öffnete seine Tür.

„Was soll ich tun“, fragte er beim Aussteigen.

„Die Absperrung, da vorne. Die ist im Weg.“

„Ja, wegen der Baustelle. Wir müssen einen anderen Weg suchen.“

„Kommt gar nicht in Frage. Die Straße ist frei und die Absperrung hier ist Quatsch. Können Sie die kurz zur Seite räumen, damit ich durchfahren kann.“

Karl dachte einen Moment nach. Er wollte ob der Unrechtmäßigkeit protestieren, erkannte dann aber den Witz in Tonis Augen. Eine Eigenschaft, die er sehr schätzte und auf die er sich verlassen wollte.

Während Toni sich wieder auf dem Fahrersitz niederließ und den Motor startete, ging Karl vor das Auto und hob die Barke aus den Ständern. Unsicher blickte sich Karl um, ob sie beobachtet wurden. Das Auto glitt an ihm vorbei und niemand sprach ihn an. Er senkte die Absperrung wieder in ihre Füße und ging dann zügig zur Beifahrerseite, wo er sich wieder auf seinem Platz niederließ.

Toni gab Gas.

Die Straße war wirklich frei. Keine Baumaschinen, keine Menschen, vor allem aber keine Autos und kein Verkehr.

„Hier ist alles frei“, sagte Toni und erklärte damit das, was eigentlich offensichtlich war. „Bei dem Tempo, haben die bis Weihnachten wahrscheinlich immer noch die Sperrung aktiv.“

Das Tempo des Autos war hoch. Bei der freien Straße gab es nichts, worauf sie unbedingt achten mussten. Toni fuhr schnell. Karl war es Recht. Je schneller sie vorankamen, desto eher würden sie die abgesperrte Baustelle und die Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr hinter sich lassen und desto früher war er im Studio. Und je früher er im Studio war, desto mehr würde er sich darauf konzentrieren können, seiner Familie zu helfen.

Ob sie angehalten werden würden? Was würde dann geschehen? War es vielleicht sogar ein Fehler, sich so sehr auf Toni, den er eigentlich gar nicht kannte, zu verlassen.

Sie wurden aber nicht angehalten. Erst, als sie an die Stelle kamen, wo Baufahrzeuge und Bauarbeiter ihrer Tätigkeit nachgingen, erregten sie Aufmerksamkeit. Aber niemand von ihnen stellte sich dem Auto in den Weg. Sie hatten schon fast das Ende der Strecke erreicht, da wurde die Zahl der Lastwagen, Bagger, Walzen und Gerätschaften größer und damit auch der Verkehr dichter. Es war eine ganze Armee an Bauarbeitern unterwegs.

Ein Mann mit gelbem Helm und gelber Jacke mit Reflektoren stellte sich schließlich doch dem Auto in den Weg. Er wartete, bis Toni ihn fast erreicht hatte und deutete, dass sie anhalten sollten. Toni ließ das Fenster herunterfahren. Es hörte exakt in dem Moment auf, sich zu bewegen, als auch der Wagen zum Halten kam.

„Sie wissen, dass sie hier nicht durch dürfen. Das ist eine Baustelle. Da ist abgesperrt.“

„Ja, ick weiß, Meister“, sagte Toni in breitestem Berlinerisch. Es wirkte verschmitzt und auch etwas schelmisch. „Ick bin nicht von hier, wa? Und da hinten war keine Absperrung.“

„Die Schilder haben sie aber schon gesehen, oder?“

„Ick bin aus Berlin, mein Bester. Ick hab mich an die Schilder zum Zentrum orientiert. Bei dem Rest wusste ich nicht, was da gemeint war.“

Der Mann am Fahrerfenster seufzte und rollte mit den Augen. Er war absolut nicht amüsiert über die kleine Diskussion.

„Jetzt haben wir’s aber schon fast geschafft. Oder?“, fragte Toni. In seiner Stimme schwang die blanke Unschuld und Karl lachte ein wenig in sich hinein, darum bemüht nach außen eine neutrale bis besorgte Meine zu zeigen.

„Wollen Sie uns dann nicht jetzt auch da raus lassen? Wir sind dann auch nicht mehr im Weg“, sagte Toni und zeigte erst auf die Absperrung, die den normalen Stadtverkehr aus der Baustelle aussperrte und dann auf die mit laufendem Motor wartenden Lastwagen.

Der Mann dachte für einen Moment nach, winkte als Antwort Toni nur nach vorne und ging neben dem sich schließenden Fenster her, um die Absperrungsbarke aus dem Weg zu räumen.

„Danke“, rief Toni im letzten Moment, bevor das Fenster ganz geschlossen war, winkte zum Abschied und wartete an der Straße kurz, um sich in den Verkehr einzuordnen.

Der Mann schüttelte den Kopf, während er hinter dem Auto die Absperrung wieder an ihren Platz räumte.

„Der schnellste Weg“, seufzte Toni und gab Gas.

Karl lächelte, beeindruckt von Tonis Charme und Gelassenheit.

Es dauerte nur noch wenige Minuten, bis Toni den Wagen in die Tiefgarageneinfahrt lenkte und mit einer Schlüsselkarte das Rolltor hochfahren ließ.

„Wollen Sie hier aussteigen?“, fragte Toni.

„Nicht nötig. Ich finde mich ab dem Parkplatz schon im Gebäude zurecht“, sagte Karl.

„Alles klar“, sagte Toni und lenkte den Wagen in die weitgehend verlassene Garage. Es war Wochenende und nur wenige Plätze waren belegt. Neben den anderen Dienstwagen war ein Platz frei. Wahrscheinlich seit Toni den Wagen von dort abgeholt hatte.

Er half Karl, den Koffer auszuladen. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug. Toni entsperrte die Etagenwahl mit seiner Karte.

„Wohin wollen sie?“, fragte er Karl.

Der sah auf die Beschriftungen neben den Etagenzahlen. Das war eigentlich gar nicht nötig. Er wusste, dass er in die siebte Etage musste. Dort saß die Chefredaktion und Jörn würde er dort auch finden.

Toni drückte die sieben.

„Ick fahr mit ihnen kurz hoch. Ick hab ja jetzt Zeit und fahr dann wieder in die Lobby runter.“